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Januar 2000 Thüringer Allgemeine

Martinroda: Protestierende Bürger sind wieder selten geworden

An Einwohnern klein aber an Einfluss groß

Von Henry TREFZ

Gut 900 Bürger zählt Martinroda und steht damit genau in der Mitte der fünf Geratal-Kommunen. Der Einfluss Martinrodas in der Region aber ist traditionell deutlich größer, als es die Einwohnerzahl vermuten ließe.Die knapp einhundert Seelen, die dem Ort an der Vierstelligkeit fehlen, sind für die Martinrodaer selbst kaum ein Problem, im Gegenteil, es gab schon Gemeinderäte, die unverhohlen zugaben, dass man eigentlich lieber weiter unter sich bliebe. Dass Dreistelligkeit oberen Orts gelegentlich mit Drittklassigkeit verwechselt wird, ist es, was sie auf die Palme bringt. Und so sind sich die Bürger nicht zu schade, für den Erhalt ihrer Artztpraxis auch dann auf die Barrikaden zu gehen, wenn man ihnen intensiv versichert, dass das angeblich gar nichts nützt. Soviel Courage beeindruckte dann auch die Kassenärztliche Vereinigung nachhaltig - und erfolgreich. Protest, dieses Wort hat in Martinroda einen besonderen Klang. Montagsdemos über Wochen hinweg durch zu halten, um die Errichtung eines Steinbruchs in Hör- und Sichtweite zu verhindern, hat die Bürger zusammgeschweißt und sogar eine Bürgerinititiative ins Leben gerufen. Diese wiederum schien sich dann ihrer politischen Kraft bewusst zu werden und wollte sich als generelle Bürgerbewegung pro Martinroda etablieren.  Seitdem leider - hat man nichts wieder von ihr gehört.
Und noch eine andere Tradition ist in Martinroda bemerkenswert: Bis auf eine kurze Interimszeit von Frank Geißler ist der Ort seit deutlich mehr als zehn Jahren von Frauen regiert worden. Helga Stelzner, ebenso impulsiv wie resolut, scheiterte nach etwa drei Vierteln ihrer Wahlperiode letztlich nur, weil sie nicht so recht einsehen wollte, dass die revolutionäre Anfangszeit der kommunalen Selbstverwaltung Stück für Stück westlich dominierter Verwaltungsbürokratie  wich. Und der bis heute im Geratal beispiellose Sturz eines Bürgermeisters mitten in der Wahlperiode war nur möglich, weil der Vorläufer der vorläufigen Thüringer Kommunalordnung diese Möglichkeit eröffnete. Damals wählte noch der Rat selbst den Bürgermeister, heute tun dies die Bürger direkt, mit der Folge, dass ein Bürgermeister um vieles fester im Sattel sitzt, als seinerzeit.
Und noch eines war nicht ohne Bedeutung. Mit Frank Geißler, dem früheren Fahrdienstleiter des Martinrodaer Bahnhofes, der inzwischen als Verwaltungsmitarbeiter in der Geraberger Gemeindeverwaltung unter dem damaligen Bürgermeister Günther Irrgang das kleine Verwaltungs-Einmaleins intus hatte, stand eine Alternative bereit. Er übernahm im Handstreich die Macht in Martinroda und hätte vermutlich auch 1994 wieder kandidiert, wären nicht die hauptamtlichen Bürgermeisterstellen in ehrenamtliche umgewandelt worden. So war der Vollzeitjob in der damals gerade gegründeten Verwaltungsgemeinschaft die attraktivere Alternative.
Helga Stelzners Nachfolge, denn auch sie kandidierte 1994 wieder, trat Anita Altmann, an, ein bis dato politisch unbeschriebenes Blatt, aber immerhin mit der Erfahrung einer ABM-Stelle in der Gemeindeverwaltung ausgerüstet. Aus dem „Mädchen für alles" ist heute eine über alle Maßen selbstbewusste Politikerin geworden, die im letzten Jahr mit der Wiederholung ihres 94er Wahlsieges und dem Einzug in den Kreistag auf fulminante Weise an politischem Einfluss gewonnen hat.
Martinroda selbst hat sich in dieser Zeit vom versteckten Mauerblümchen („Ist das nicht die Häusersammlung an der B4 auf dem Weg nach Ilmenau?") peu ä peu zum ungekrönten Vorzeigeort im Geratal entwickelt. Unspektakulär - wie es doch sonst gar nicht Martinrodaer Art ist - wurden Straßen in Ordnung gebracht, ganz nebenbei die Grundschule zur letzten im Geratal gemacht und damit wohl endgültig gesichert, und durch konsequente Pflege das äußere Bild aufpoliert. Gut gepflegt, so ist heute der oft gehörte Eindruck. Daran hat seit neuesten auch die Frauengruppe Geratal ihren Anteil.
Und fast nebenbei wird mit dem Wohnungsbaugebiet in Sichtweite der Schule (ein klassisches Ansiedlungsargument für junge Familien!) nun doch noch die Vierstelligkeit bei der Einwohnerzahl angepeilt. Mit der Autobahnabfahrt so weit wie nötig weg und so nah wie sinnvoll am Ort, stehen dann auch die gewerblichen Entwicklungschancen besser. Immerhin hatte ein umtriebiger Herr vorm Gemeinderat mal die visionäre Idee von einem Hundertwasser-Objekt in petto, mit dem er die ortsbildprägenden Silos der Agrargenossenschaft weit hinaus im ganzen Lande bekannt machen wollte
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